Politiken des Lebens in Zeiten der Covid-19-Pandemie.

Eine digitale Ausstellung.

Worum geht es?

Das Projekt fördert einen interdisziplinären Austausch und Diskurs über die gegenwärtige Covid-19-Pandemie und die damit verbundenen sozialen Ungleichheiten und Widersprüche und will Anregungen für solidarisches Handeln bereitstellen. Das Projekt zielt darauf ab, eine virtuelle Ausstellung unter dem Titel ‚Politiken des Lebens in Zeiten der Covid-19-Pandemie‘ in enger Zusammenarbeit mit Studierenden aus Seminaren aus der Politikwissenschaft und Erziehungs- und Bildungswissenschaften zu erstellen.

Das Projekt begreift die gegenwärtige ‚Corona-Krise‘ als eine umfassende gesellschaftliche Krise, in der sich bereits bestehende politische, ökonomische und gesellschaftliche Widersprüche und Ungleichheiten verdichten. Aufgabe der Geistes- und Sozialwissenschaften ist es daher, aufzuzeigen, inwiefern aktuelle politische Maßnahmen zur ‚Corona-Krise‘ widersprüchliche Effekte generieren und bereits bestehende Ungleichheitsstrukturen und Diskriminierungsmechanismen verfestigen. Um die ‚Corona-Krise‘ als gesellschaftliche Krise zu verstehen, ist es erforderlich, eine breite gesellschaftstheoretische Perspektive einzunehmen, die sich auf postkoloniale, feministische, queere, rassismuskritische und kapitalismuskritische Blickwinkel bezieht. Darüber hinaus sind interdisziplinäre Perspektiven und Instrumentarien aus der Politikwissenschaft, Soziologie, Ökonomie, Erziehungswissenschaft und Medizingeschichte unabdingbar.

Die Ausstellung wird entlang verschiedener Schwerpunkte konzipiert sein, denen jeweils ein thematischer Ausstellungsraum gewidmet wird. Die Inhalte der Ausstellung in unterschiedlichen Formaten – Text, Audio und Video – werden in enger Zusammenarbeit mit Studierenden aus Seminaren der drei Projektleiter*innen erstellt und durch Beiträge von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen ergänzt. Auf diese Weise soll ein vielstimmiges Mosaik über die aktuelle Covid-19-Pandemie entstehen.

Die virtuelle Ausstellung soll Anfang des Wintersemesters 2020/2021 eröffnet werden.

Interview mit Gundula Ludwig, Nadine Rose und Philipp Schulz

Was brauchen Sie als WissenschaftlerInnen in der aktuellen Zeit mehr denn je?

Im Kontext der gegenwärtigen Covid-19-‚Krise‘ wird deutlich, wie wichtig wissenschaftliche Erkenntnisse, Einsichten und Debatten sind, nicht nur in der Immunologie und Virologie sondern interdisziplinär darüber hinaus. Insbesondere Perspektiven und Blickwinkel aus den Geistes- und Sozialwissenschaften – wie sie im Rahmen unseres Projektes und unserer weiteren Forschung angewandt werden – sind dabei immens wichtig, um soziale Ungleichheiten und Widersprüche aufzudecken, welche durch die Krise und damit verbundene Maßnahmen besonders hervortreten und sogar verschärfen. Um diese gesellschaftskritische Forschung durchführen zu können, brauchen wir als Wissenschaftler*innen – und insbesondere als Nachwuchswissenschaftler*innen – nicht nur in der aktuellen Zeit, aber jetzt mehr denn je, sichere und konstante Forschungs- und Arbeitsbedingungen und Beschäftigungs-Verhältnisse. Zudem braucht es auch lebendige Dialoge mit Kolleg*innen, Studierenden und v.a. mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und sozialen Bewegungen, was aktuell allerdings nur sehr eingeschränkt möglich ist.

Welche positiven Veränderungen erhoffen Sie sich durch die gegenwärtige Krise?

Die ‚Corona-Krise‘ macht viele gesellschaftliche Problematiken und Widersprüche sichtbar, die auch schon davor existierten: So wird gegenwärtig augenscheinlich, dass Sorge-Arbeit in unserer Gesellschaft nachrangig ist. Viele der „systemrelevanten Berufe“ sind daher schlecht bezahlt, wenig anerkannt sind und werden großteils von Frauen* übernommen. Ebenso zeigt sich, dass die Neoliberalisierung des Gesundheitssystems eine umfassende Gesundheitsversorgung der Bevölkerung gefährdet und auch perspektivisch weiter gefährden wird. Zugleich sehen wir, dass sich Macht- und Herrschaftsverhältnisse in der „Corona-Krise“ zuspitzen: Menschen, gerade Frauen*, mit privaten Care-Verpflichtungen sind zunehmend erschöpft, Gewalt in Familien steigt, Geflüchtete in Lagern oder Wohnungslose sind einem Erkrankungsrisiko weitgehend schutzlos ausgesetzt und in Ländern des Globalen Südens steigt die Armut rasant. Allerdings wurde in den letzten Wochen ebenso deutlich, wie brüchig die gesellschaftliche Ordnung ist: Es zeigte sich, dass das neoliberale Mantra der „Schwarzen Null“ eben nicht alternativlos ist und dass eine drastische Einschränkung beispielsweise des Flugverkehrs, wie dies von Klima-Aktivist*innen und Klima-Forscher*innen schon lange gefordert wird, freilich möglich ist. In dieses ‚Gemengelager‘ gilt es nun zu intervenieren und neue Imaginationen einer solidarischen Weltordnung voranzutreiben. Denn ob die Krise zu positiven Veränderungen, also zu einem Abbau von Ungleichheiten, führt oder ob sie diese vielmehr verstärkt, wird von sozialen Auseinandersetzungen und der Ausgestaltung globaler gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse abhängen.

Welchen Beitrag leistet Ihr Projekt für den Umgang mit und zum Diskurs über COVID-19?

Unser Projekt fördert einen interdisziplinären Austausch und Diskurs bezüglich der gegenwärtigen Covid-19-Krise und damit verbundenen sozialen Ungleichheiten und Widersprüchen und will Anregungen für solidarisches Handeln bereitstellen. Denn um die ‚Corona-Krise‘ als umfassende gesellschaftliche Krise zu verstehen, ist es erforderlich, breite und interdisziplinäre gesellschaftstheoretische Perspektiven und Blickwinkel einzunehmen – wie wir es in unserem Projekt tun. Wir freuen uns zudem, dass unser Projekt zudem einen Austausch zwischen Lehrenden, Studierenden und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen ermöglicht und auf diese Weise ein vielstimmiges Bild auf die aktuelle Covid-19-Pandemie geworfen werden kann. Dieses Mosaik wird in der  von uns organisierten digitalen Ausstellung in unterschiedlichen Formaten – inklusive Text, Video und Audio – verschiedene Themenkomplexe auch jenseits des Seminarkontexts einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Interview with Gundula Ludwig, Nadine Rose, and Philipp Schulz

What do you as academics need now more than ever?

In the context of the current Covid-19 ‘crisis’, it’s clear how important academic knowledge, insights and debate are – not only in terms of immunology and virology, but also on a interdisciplinary level beyond those fields. In particular, perspectives from the humanities and social sciences – as applied in our project and in our further research – are incredibly important; for they reveal social inequalities and contradictions, which the crisis and its accompanying measures emphasise and even exacerbate. In order to be able to carry out this socially critical research, we as academics – and especially as early career researchers – need secure and reliable research and working conditions as well as employment relationships; not just at the present time, but now more than ever. Furthermore, we also need the lively dialogue with colleagues, students, and, above all, with stakeholders and representatives of civil society and social movements, although this is currently only possible to a very limited extent.

What positive changes do you hope to see as a result of the current crisis?

The ‘Corona crisis’ has highlighted many social issues and contradictions which already existed beforehand. Thus, it is currently becoming blatantly clear that care work is of secondary importance in our society. As a result, many of the “systemically relevant jobs” are poorly paid, awarded very little appreciation, and are largely occupied by women. It is also clear that the neoliberalisation of the health care system is jeopardising comprehensive health care for the population and will continue to do so in the future. At the same time, we can see that power relations are coming to a head during the ‘Corona crisis’. People, especially women, with private care commitments are becoming increasingly exhausted. Violence in families is on the rise. Refugees in camps and homeless people are largely exposed to the risk of infection, and poverty is rising rapidly in the countries of the Global South. However, it’s also become evident in the last few weeks just how fragile the social order is. It’s been shown that the neoliberal mantra of the “Black Zero” is not without alternatives after all, and that a drastic restriction of air traffic, for example – and as climate activists and researchers have long demanded it –, is certainly possible. It’s now time to intervene in this ‘Gemengelager’ (‘entanglemnet of different parties and their interests’) and promote new visions of a world order based on solidarity. Whether the crisis leads to positive changes, such as a reduction of inequalities, or whether it actually intensifies them will depend on social debates and the shaping of global social power relations.

What contribution does your project make to the discourse on Covid-19?

Our project promotes an interdisciplinary exchange and discourse regarding the current Covid-19 crisis and the related social inequalities and contradictions. It also aims to provide suggestions for acting in solidarity. In order to understand the ‘Corona crisis’ as a comprehensive social crisis, we must adopt broad and interdisciplinary socio-theoretical perspectives – as we do in our project. We are also pleased that our project enables an exchange between teachers, students, and stakeholders from civil society which allows us to paint a many-voiced picture of the current Covid-19 pandemic. In the digital exhibition we organise, this mosaic of perspectives will be made available not just in the context of our seminars at the university, but to a wider public, via various formats including text, video, and audio.

Die Ausstellung

Digitale Ausstellung: Von Biopolitik bis Solidarität – ein kritischer Blick auf Gesellschaft und Politik in der Corona-Krise 

Am 15.12.2020 startet die Ausstellung „Covid-19: Ein Mosaik. Politiken des Lebens in Zeiten der Corona-Krise“ hier in digitaler Form.

Wie können Wohnungslose den Forderungen nach #stayathome nachkommen, wenn sie kein Zuhause haben? Welchen Gefahren sind Geflüchtete in Massenunterkünften ausgesetzt? Wie können Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden, wenn es an Masken und Desinfektionsmitteln mangelt? Wie ist politischer Protest in Zeiten einer Pandemie möglich? Und was hat all das mit Biopolitik und strukturellen Machtverhältnissen zu tun? Auf diese Fragen gibt die Ausstellung Antworten: Erfahrungen von Aktivist*innen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen geben zusammen mit Perspektiven aus der politischen Theorie einen umfassenden Einblick in die sich verdichtenden politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen Probleme der Corona-Krise.

Nur damit Familie Mustermensch auch in Corona-Zeiten sonntags ihren Spargel auf dem Tisch hat, müssen Erntehelfer*innen unter unmenschlichen Bedingungen leben und arbeiten.

Seuchen ohne Seuchenpolitiken gibt es nicht. Auch die aktuelle Covid-19-Pandemie ist eingebettet in gesellschaftliche Verhältnisse und in Politiken des Lebens: in Politiken, die durch Kontaktbeschränkungen, home-office und Schul-Schließungen die Lebensweisen der Menschen verändern; in Politiken, die festlegen, welches Leben geschützt werden soll und welche Tätigkeiten als systemrelevant gelten; und in Politiken, die eine Gesundheitskrise in eine ökonomische Krise mit Versorgungsengpässen und Verarmung verwandeln. Diese Politiken des Lebens führen dazu, dass das Virus zwar alle treffen kann, aber dennoch nicht alle in gleicher Weise vom Virus gefährdet und von den politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie betroffen sind. Die Ausstellung lädt dazu ein, neue Blickwinkel auf die Krise und ihre Symptome zu entwickeln.

Die Ausstellung möchte vielfältige Erfahrungen in der Corona-Krise sichtbar machen und zu einer Auseinandersetzung mit Privilegien führen.

Mehr als 29 Ausstellungsstücke in sieben thematischen Räumen ziehen die Verbindung zwischen Körpern und Kapitalismus, Sorge und Geschlechterverhältnissen, Gesundheit und Rassismus, Sicherheit und postkolonialen Grenzregimen, Schutz und Nationalismus, Verletzbarkeit und Demokratie.

Die Besucher*innen erfahren in Podcasts, Videos, Interviews und Texten, wie die ohnehin schon prekären Lebensrealitäten von marginalisierten Menschen sich in der Corona-Krise zuspitzen – aber auch, welche Formen von Solidarität und Protest sich dagegen in den letzten Monaten ebenso entwickelten. Begriffe und Erklärungsansätze aus der politischen Theorien wie Biopolitik, Immunisierung, Verletzbarkeit, Prekarisierung und Sorge werden als Instrumente vorgestellt, um die Politiken des Lebens in der Corona-Krise einzuordnen.

Ein Mosaik von Wissensformen: Wissen aus dem Seminarkontext und aktivistisches Wissen

Die Grundkonzeption der Ausstellung ist im Rahmen eines politikwissenschaftlichen Seminars zur Corona-Krise an der Universität Bremen entstanden. Die Podcasts und Präsentationen der Studierenden werden nun öffentlich zugänglich gemacht. Ergänzt wird die theoretische Auseinandersetzung mit Beiträgen von Aktivist*innen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen wie der Black Community Foundation Bremen, Ende Gelände, FAU Bonn, Mission Lifeline, Seebrücke, Together we are Bremen und vielen anderen. So entsteht ein vielfältiges Mosaik zur Corona-Krise, das eine Brücke zwischen aktivistischem und akademisch-kritischem Wissen schlägt und die vielschichtigen Aspekte der ungleichen Politiken des Lebens in der Corona-Krise sichtbar macht.

 

Bei Rückfragen zur Ausstellung und der Entstehung des Projekts wenden Sie sich an pdl2020@uni-bremen.de

Wer arbeitet hier?

Geleitet wurde das Projekt von den Politikwissenschaftler*innen Gundula Ludwig und Philipp Schulz, Mitarbeiter*innen waren Gunnar Bantz, Renée Gerber und Sara Kirch.

Hintergrund des Projekts

Dieses Projekt resultiert aus unserer Sonderausschreibung „Corona-Krise und die Humanities“. Dabei fördert Worlds of Contradiction ein Projekt, das auf die aktuelle gesellschaftliche Krise durch COVID-19 bzw. SARS-CoV-2 reagiert, mit bis zu 7.500€. Die disziplinär breiten, auch in den Humanities zu führenden Diskussionen zu den widersprüchlichen Folgen der derzeit notwendigen gesundheitspolitischen Entscheidungen sollen dabei im Fokus stehen und auch einer nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.